Ein Ort der Inspiration

Unabhängige Buchhandlungen sind literarische Anlaufpunkte und weit mehr als bloße Verkaufsstellen für das gedruckte Wort. In einer kleinen Serie stellt kir inhabergeführte Buchläden im gesamten Ruhrgebiet vor. Den Auftakt macht die Buchhandlung „Proust Wörter & Schönes“ in Essen.

Wer die Buchhandlung zum ersten Mal betritt, dem fällt sogleich das außergewöhnliche, horizontale Bücherregal ins Auge. Das Angebot an Literatur lässt sich gut überblicken, der Laden ist mehr Ort der Begegnung als Warenlager und miteinander Sprechen ausdrücklich erwünscht. „Wir sehen es als unsere Aufgabe, nicht nur Bücher zu verkaufen, sondern auch einen Raum zu schaffen, in dem Menschen Inspiration finden, neue Perspektiven entdecken und miteinander ins Gespräch kommen“, darin sind sich Marion (55) und Johanna (29) Leibecke einig. Das Mutter-Tochter-Duo hat im Januar 2025 mit der Buchhandlung Proust an der Akazienallee in Essen einen der renommiertesten Buchläden des Landes übernommen. 2005 von Beate Scherzer und Peter Kolling eröffnet, wurde das Geschäft in der Essener Innenstadt vom Börsenblatt des deutschen Buchhandels in den Jahren 2015, 2016, 2017 und 2018 als „Deutschlands schönste Buchhandlung“ ausgezeichnet. Große Fußspuren, in die die beiden Branchen-Neulinge da steigen. „Wir kommen aus Mülheim an der Ruhr, und ich kannte Proust im Vorfeld gar nicht. Hätte ich vorher die großen Artikel über den Laden in der Süddeutschen Zeitung und der FAZ gelesen oder gewusst, dass unsere Vorgänger zum Abschied die Lichtburg gefüllt bekommen, hätte ich mir die Übernahme des Ladens vielleicht nicht zugetraut. Das wäre mir einfach eine Nummer zu groß gewesen“, räumt Marion Leibecke heute ein. Jahrzehnte lang arbeitete sie am Flughafen Düsseldorf als Assistentin der Geschäftsführung in der Luftfahrt, hat von der IT bis hin zu Veranstaltungen (fast) alles organisiert. Mit Buchhaltung kennt sie sich aus. Alles andere, was man braucht, um eine Buchhandlung zu führen, haben sie und ihre Tochter, die studierte Soziologin, sich draufgeschafft. „Wir haben Seminare belegt, und Beate Scherzer und Peter Kolling haben uns gut vorbereitet. Außerdem stehen sie heute auch noch für Fragen zur Verfügung“, ergänzt Johanna Leibecke. Für tatkräftige Verstärkung sorgen zudem die Mitarbeiterinnen Susanne Engling und Sarah Jäger. Letztere hat übrigens soeben als Autorin für ihren Jugendroman „Und die Welt, sie fliegt hoch“ den Deutschen Jugendliteraturpreis 2025 gewonnen. 

Wenn Mutter und Tochter gemeinsame Sache machen …

Seit einem Dreivierteljahr führen die Leibeckes jetzt den Kultbuchladen an der Akazienallee. „Wir haben am Anfang sicher auch einige Fehler gemacht, aber die konnten wir alle im Hintergrund ausbügeln“, sagt Marion Leibecke zuversichtlich. Kleine Veränderungen haben stattgefunden, aber der treue Kundenstamm findet im Großen und Ganzen Bewährtes vor. Es gibt weiterhin Lesungen und auch kleine Konzerte in den Räumen der Buchhandlung und natürlich eine fundierte Beratung. „Während man in den großen Ketten meist vor allem Bücher von der Spiegel-Bestseller-Liste findet, setzen wir auf Indie-Verlage“, betont Johanna Leibecke und ergänzt: „Wir haben viele Werke unabhängiger Häuser. Kunden sprechen uns oft darauf an und sagen: Das ist so eine tolle Buchauswahl bei euch. Da zahlt es sich aus, dass wir nicht nur das anbieten, was überall rauf und runter besprochen wird.“ Als der Laden unter den Vorgängern noch „Proust Wörter und Töne“ hieß, gehörte noch eine größere Musik- und Kunstabteilung zum Sortiment. Diese, ebenso wie die Theaterabteilung, haben Beate Scherzer und Peter Kolling bereits einige Zeit vor der Geschäftsübergabe langsam auslaufen lassen. Die neuen Inhaberinnen bleiben der Grundausrichtung des Buchladens absolut treu, bringen aber eigene Nuancen ein. Ein paar Artikel aus dem Non-Book-Bereich haben den Weg auf die Tische gefunden – in ganz überschaubarem Rahmen. Da sind vor allem Filzblumen und originelle Puzzles aus nachhaltiger Produktion. Bei der Buchauswahl selbst spielen dann persönliche Interessen auch immer eine Rolle. „Mir gefällt die schwerfällige Literatur. Ernste Themen ziehen mich an. Wenn ein Kunde nach etwas Leichtem für den Urlaub sucht, da muss ich länger überlegen“, räumt Marion Leibecke ein. Tochter Johanna hingegen mag feministische Romane und „Bücher zu absurden Themen“. Ein kleines Regal mit Ruhrgebiets-Literatur ist natürlich auch zu finden, ebenso wie Kinder- und Jugendbücher, Biographien, Lyrik und Sachliteratur. Um die Buchauswahl kümmern sich beide Inhaberinnen gleichermaßen. Während Marion zudem die Zahlen im Blick behält, fällt die Öffentlichkeitsarbeit mit Website und Social Media in den Einsatzbereich von Johanna. Ansonsten ist auch jede für alles zuständig. Konflikte innerhalb der Familie? „Nein. Das klappt wirklich gut mit uns“, sind die beiden sich einig und verraten: „Seit einiger Zeit treffen wir uns jetzt einmal im Monat morgens im Café und nehmen uns dann ganz bewusst die Zeit, um Themen zu besprechen, für die im Alltagsgeschäft kein Raum ist.“ 

Für das neue Jahr planen die beiden einen Leseclub zusammen mit Kundinnen und Kunden. „Wir wollen Bücher zu bestimmten Themen auswählen und dann gemeinsam mit Interessierten besprechen.“ Eine gemütliche Sitzecke im hinteren Ladenbereich steht schon bereit. Erste Leseclub-Liebhaber können sich bereits unter info@buchhandlung-proust.de melden.