Industriekultur vor neuen Aufgaben
Auch wenn die Umwandlung ehemaliger Zechen, Stahlwerke oder Gasometer an vielen Orten geglückt ist: Digitalisierung, Generationenwechsel und die sich wandelnden Ansprüche stellen die Relikte des fossilen Zeitalters vor neue Herausforderungen. Ein Gespräch mit Dr. Walter Hauser, Direktor der Industriemuseen des Landschaftsverbands Rheinland, der kürzlich zum Präsidenten der Europäischen Route der Industriekultur, ERIH, gewählt wurde.

Herr Hauser, Sie haben vor einigen Wochen den Vorsitz der europäischen Industriekultur-Routen, übernommen. Welche Herausforderungen stellen sich der Industriekultur aktuell?
Die Europäische Route der Industriekultur ist tatsächlich ein Erfolgsmodell: Wir sind eine der aktivsten Kulturrouten des Europarats, sind dort mittlerweile sehr anerkannt und bekommen auch demnächst wieder eine EU-Förderung in Höhe von 1,2 Millionen Euro.
Es gibt aber Regionen, in der das Thema immer noch unterbelichtet ist. Das ändert sich gerade. Polen ist sehr aktiv, und auch in Finnland bauen wir viel auf.
Spannend ist der Generationenwechsel, denn die Pioniergeneration verabschiedet sich gerade. Es wird entscheidend sein, junge Menschen dafür zu gewinnen, mit diesen Standorten etwas zu machen. Die haben nicht mehr den Blick derer, die hier noch gearbeitet haben, und damit geraten andere Themen in den Fokus: Wie machen wir unserer Standorte nachhaltig? Wie zeigen wir postfossile Transformation?
An unseren Standorten stehen noch die Kamine, hier stehen die Dampfmaschinen, das sind alles Symbole des fossilen Zeitalters – und das ist durch! Punkt. Gerade für junge Menschen. Bei denen müssen wir vielleicht auch um Sympathie werben, denn für die sind wir sozusagen die Bösen, nach dem Motto: „Ihr wart ja alle schuld“. Wir sind daher mittendrin in einer Diskussion, wie wir junge Menschen gewinnen. Auf europäischer Ebene ist das ein großes Thema.
Ein anderes Thema ist die Digitalisierung. Wir müssen uns digitaler aufstellen und im digitalen Raum vermitteln. Da können wir auch europaweit noch etwas tun, auch wenn die ERIH-Website bereits zu den bekannten Anlaufstellen für Industriekultur gehört.
Anerkennung ist ja immer auch eine finanzielle Sache, und die übergeordnete EU-Förderung steht, sagten Sie. Aber wie sieht das an den einzelnen Standorten aus?
Es gibt Länder, in denen das ERIH-Siegel eine Hilfe ist, um Fördermittel zu beantragen. Polen, zum Beispiel, hat in den letzten Jahren sehr viele Ankerpunkte der Industriekultur eingerichtet und einiges an regionalen und nationalen Förderprogrammen gewinnen können. Die haben dabei konsequent ERIH als europäisches Qualitätssiegel strategisch genutzt.
Aber es gibt aber auch Standorte, auch in der näheren Umgebung, die ständig ums Überleben kämpfen.
Ja, das gibt es in vielen Ländern. Großbritannien ist ein Beispiel, wo viele Kulturorte prekär dastehen, weil sich der Staat zurückgezogen hat. Von denen können wir viel lernen, wenn es darum geht, unabhängig von staatlicher Förderung Ressourcen zu generieren. Teilweise ist das bewundernswert, denn dort werden auch Museen gnadenlos geschlossen. Das ist nicht unbedingt auf uns übertragbar. Und im Vergleich dazu stehen wir hier deutlich besser da.

Kultur durch Wandel, Wandel durch Kultur – ist dieser Grundgedanke von 2010, als das Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt war, heute in den Köpfen präsent?
Als ich die Entwicklung im Rheinischen Revier beobachtet habe, hatte ich das Gefühl, dass das wieder ganz vergessen wurde und mühsam jetzt wieder eingebracht werden musste. Da es zum Glück auch viele internationale Beispiele gibt, wo Industriekultur funktioniert, klappt das dann doch irgendwann, und mittlerweile wächst wieder ein Bewusstsein dafür. Das hat auch damit zu tun, dass wir dabei sind, den Bundesverband Industriekultur zu gründen, um uns auf nationaler Ebene zu organisieren. Wir sind, glaube ich, eine der letzten Kultursparten, die national bisher überhaupt nicht organisiert sind. Im Kulturrat ist jede Szene der Kultur vertreten, nur Industriekultur gibt es auf nationaler Ebene bisher nicht. Das werden wir versuchen zu ändern – allein schon aus den fördertechnischen Gründen und auch, um politisch eine gewisse Rolle spielen zu können. Das ist etwas, wobei auch ERIH unterstützend tätig werden kann.
Wie blicken denn die anderen Standorte und Länder auf die Route Industriekultur im Ruhrgebiet, die ja gerade ihr 25jähriges Jubiläum gefeiert hat.
Auch andere Routen funktionieren mittlerweile sehr gut. Oberschlesien ist so ein Beispiel, und auch in Nordspanien passiert sehr viel. Aber die Route der Industriekultur im Ruhrgebiet ist, auch europaweit, immer noch ein Vorbild. Es ist sicherlich die bekannteste Regionalroute, die immer noch Impulse setzt, sich sehr engagiert und immer wieder ihr Wissen mit anderen teilt. Auch wenn wir klagen: Wir geben hier viel Geld aus, und das ist ein großes Invest. Von daher haben wir auch weiterhin eine Vorbildrolle.
Welche Rolle werden denn die Industriekultur und die Orte der Industriekultur in Zukunft spielen können?
Es gibt einen Wandel. Anfangs ging es um Erhalt, um Erinnerungsorte. Man hat Industriekultur lange Zeit als Industriemuseum gesehen mit ein bisschen Kultur dabei. Das wird immer ein Aspekt bleiben, aber eben nur noch einer unter vielen. Damit die Konversion eines Ortes sich trägt, braucht man die Mischnutzung eines offenen Ortes, eines Begegnungsortes mit kulturellen, aber auch gewerblichen Komponenten.
Nehmen wir Frimmersdorf als Beispiel. Das ist ein Ort von der Größe Zollvereins, ein riesiges ehemaliges Kraftwerk aus einem Braunkohlerevier, und wahrscheinlich der größte Standort, den wir dort erhalten können. Man hat dort gezielt untersucht, wie man diesen Ort auch gewerblich nutzen kann, und festgestellt, dass ein ehemaliges Kraftwerk sehr gut aufgestellt ist, was Energieversorgung und den Umgang mit den Ressourcen angeht. Das ist ein Hochsicherheitsgebäude und hat meterdicke Wände – alles Dinge, die ein Rechenzentrum braucht. Also baut man lieber ein Rechenzentrum rein. Zu dieser gewerblichen Nutzung kommt eine neue digitale Akademie des Landes. Dann kommt noch ein Erinnerungsort dazu, so eine Art Besucherzentrum, das als Portal der Industriekultur erzählt, worum es hier eigentlich geht und was in dieser Transformation passiert.
Ganz neu ist das nicht. Wenn ich mir das Kraftwerk Ermen & Engels in Engelskirchen anschaue, einen unserer LVR-Standorte, historisch nicht ganz unbedeutend, das war immerhin der Vater von Friedrich Engels, der das dahingestellt hat: Dort gab es in den achtziger Jahren schon genau so ein Konzept der Mischnutzung. Da ist ein Rathaus reingekommen, da sind Eigentumswohnungen, Feuerwehr und Caritas reingekommen, und da entstand ein Museum. Das ist heute wieder das Thema: Konversion, Transformation, ganz offen gedacht.

Sind damit die Inventarisierung und Historisierung abgeschlossen? Wir sehen hier ja gerade, wie sich Altenberg in Oberhausen zu einem Dritten Ort in der Stadtgesellschaft transformiert.
Ganz abgeschlossen ist so ein Prozess ja nie. Wir haben bei der Arbeit an der neuen Dauerausstellung wieder viel Neues entdeckt, so dass wir über die Geschichte des Standortes viel, viel mehr erzählen können, über Migration, über Globalisierung. Altenberg war ein belgisches Unternehmen, das Vielle Montagne hieß, das von den Nazis umbenannt wurde und sich nach dem Weltkrieg neue Wege gesucht und in der Druckindustrie auch gefunden hat. Es geht auch um Fragen wie Zwangsarbeit. Wie hat sich Altenberg verhalten? Und wo kamen überhaupt die Menschen her, die hier gearbeitet haben? Wie hat sich die Energieversorgung gewandelt? Am Anfang wurde die von einer zentralen Dampfmaschine bereitgestellt, später kam die Elektrifizierung, das lief dann dezentral – ein völlig anderes System.
Nach der Stilllegung entstand hier das Soziokulturelle Zentrum, das in den 1980er Jahren legendär geworden ist. Früher erinnerten sich die Oberhausener daran, dass Opa bei Altenberg gearbeitet hat. Mittlerweile erinnern sie sich daran, dass sie hier in ihrer Jugend getanzt haben.
Das heißt: Die Geschichte ist erzählt, aber wir müssen sie für jede Generation neu erzählen.
Und das zeigt ja auch, dass es Transformation schon in der Vergangenheit gab und dass Transformation möglich ist. Industriekulturorte können Beispiele für gelungene Transformation sein. Und das kann uns Mut machen.