Lars Henrik Gass: Festivals regeln, was der Markt nicht schafft
Mehr als ein Vierteljahrhundert hat Lars Henrik Gass die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen geleitet und geprägt. Er hat Innovationen ausprobiert und meinungsfreudig Debatten angestoßen. Im Februar wechselt er als Gründungsdirektor des Film- und Medienhauses nach Stuttgart. Ein Gespräch über Festivals und die drastisch veränderte Filmlandschaft.
27 Jahre lang waren Sie Leiter der Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen. Wie haben sich die Debatten in dieser Zeit verändert?
Als ich anfing, 1997, war schon erkennbar, dass im Kurzfilm Entwicklungen des Films früher stattfinden als anderswo. Die Privatisierung der Filmrezeption, die wir derzeit wahrnehmen können, hat sich im Prinzip damals schon abgezeichnet und hatte erhebliche Auswirkungen auf Filmfestivals und ihr Selbstverständnis. Festivals haben ja früher wie Messen funktioniert. Man hat dort erstmals Filme gesehen, die erst danach im Kino oder im Fernsehen zu sehen waren. Mittlerweile sind die Festivals für mehr als neunzig Prozent der Filme, die sie zeigen, auch gleichzeitig die Endstation.
Das ist eine erstaunliche Entwicklung, die auf vielen Ebenen Konsequenzen hat - was beispielsweise die Kulturförderung, was das Selbstverständnis der Festivals, aber auch was die Perspektive von Filmemachern und Produzenten anbelangt.
Hinzu kam das Auftreten neuer Phänomene: Musikvideos waren lange Zeit ein Thema, dann die Verbindung mit der Popkultur und zunehmend auch der Kunstbereich als Auswertungsfläche von Filmen.
Was heißt das?
Das ging in den frühen 2000er-Jahren los: Harald Szeemann hat auf der Kunstbiennale in Venedig Musikvideos von Chris Cunningham gezeigt. Das war revolutionär, und für ein paar Jahre waren Filme in Kunstausstellungen ein großes Thema. Mittlerweile spielt dies im Kunstbereich nur noch eine marginale Rolle. Das hat schlicht damit zu tun, dass man im Kunstmarkt begriffen hat, dass sich mit Bewegtbildern schlecht Geld verdienen lässt.
Gleichzeitig sind Bewegtbilder allgegenwärtig. Jeder produziert heute eigentlich ständig Kurzfilme.
Genau.
Wie kann ein Festival darauf reagieren?
Auch das ist eine Frage des Selbstverständnisses. Wenn alles schon irgendwie im Netz steht und alle es irgendwie schon gesehen haben, verändert sich deine Rolle als Festivalmacher: Dann geht es darum, programmlich, programmatisch zu arbeiten, gewissermaßen eine Art Qualitätsmanagement zu leisten. Wir kennen alle die Erfahrung: Wir sitzen abends vor einer Streamingplattform und überlegen, was wir uns anschauen sollen. Da kann von Vorteil sein, wenn dir auf einem Festival jemand etwas zeigt, was du noch nicht kennst und woran du noch nicht gedacht hast.
Ich sehe hier eine Aufgabe für ein antizyklisches Vorgehen, um das, was der Markt nicht regelt, im öffentlichen Interesse zu regeln.
Ist das nicht die klassische Aufgabe von Festivals immer schon gewesen, eine andere Ästhetik zu untersuchen?
Ja, aber es kommt im Zuge der Privatisierung der Filmrezeption ein neues Problem hinzu: Mittlerweile ist es ja so, dass eine jüngere Generation gar nicht mehr gelernt hat, ins Kino zu gehen und auch diese Schwellenerfahrung gar nicht mehr kennt. Oder sich anderthalb Stunden hinzusetzen und ein Programm möglicherweise mit mehreren Kurzfilmen zu sehen: Das ist ja nichts, was noch vorausgesetzt werden kann. Damit will ich nicht sagen, dass das für mich ein Wert an sich ist. Aber es steht in engem Zusammenhang mit der Frage, wie demokratische Öffentlichkeit funktioniert. Demokratische Öffentlichkeit funktioniert ja so, dass man einander zuhört oder auch mal Dinge anschaut, die man eben noch nicht gehört oder gesehen hat. Insofern halte ich es für konstitutiv für eine demokratische Öffentlichkeit, dass auch Kultur mit Schwellenerfahrung und auch mit solchem zwanglosen Zwang einhergeht. Das ist, glaube ich, etwas, was heute noch einmal anders behauptet werden muss als zu der Zeit, als ich hier in Oberhausen anfing.
Was waren die wichtigsten Erneuerungen der Kurzfilmtage in den vergangenen Jahren?
Der MuVi-Preis war sicher ein markanter Punkt, auch weil er sehr früh gesetzt wurde. Aber es ging ja schon los mit dem Umzug von der Stadthalle Oberhausen zurück ins Kino. Dann haben wir ab den frühen 2000er-Jahren schon eigene Web- und Streamingplattformen entwickelt. Wir haben auch ein Online-Magazin etabliert, das wir mittlerweile an die AG Kurzfilm abgegeben haben. Und dann, klar, die Öffnung zum Kunstbereich hin, die Implementierung neuer Formate mit den Verleihern und auch der Versuch, experimentelle Formate einzubinden, zum Beispiel die eigene Festival-Geschichte anzuschauen ? das hat, glaube ich, alles eine große Rolle gespielt. Und was hier in Oberhausen immer bedeutsamer war als anderswo, sind die Gesprächsformate. Das war uns immer sehr wichtig, weil das zur DNA dieses Festivals gehört.
Was ist nicht gelungen?
Oh, da gibt es doch einiges. Nicht gelungen ist, und da habe ich eigentlich von Stunde eins dran gearbeitet, die Sanierung und Wiedererschließung des Europa-Palasts, des alten Kinos im Europahaus. Das ist eine für mich sehr schmerzliche Erfahrung gewesen, weil es über viele Jahre immer wieder versucht wurde und trotzdem gescheitert ist, letztmalig daran, dass eine Förderung bereits erlangt worden war und die Stadtverwaltung nicht fähig war, die Förderung in dem gesetzten Frist- und Budgetrahmen umzusetzen. Das war wirklich frustrierend.
Aber es gab auch Anderes, und spätestens nach der Pandemie war mir klar: Es braucht einen Transformationsprozess für dieses Festival, möglicherweise für Festivals generell, in dieser Stadt und in dieser Region. Für diesen Prozess habe ich nicht die nötige Unterstützung erlangt, vielleicht weil man glaubt, dass es reicht, dieses Festival einfach so weiterzuführen. Dieser Auffassung bin ich nicht.
Wie steht es um das Ruhrgebiet als Ort für Filmfestivals?
Das Ruhrgebiet ist kein Medienstandort, im Gegensatz zu Köln oder Düsseldorf. Hinzu kommt die Problematik von NRW als Flächenland. Oberhausen ist von Köln weit weg, und das ist für einen Festivalstandort nicht einfach. Und dann ist da die Frage, ob es noch zeitgemäß ist, dass in Oberhausen, in Duisburg oder bisher in Lünen ein Festival nur Programm für die jeweilige Stadt macht. Es wird eine enorme Expertise aufgebaut, teilweise über Jahrzehnte hinweg, die dann leider nicht für die Fläche des Bundeslandes erschlossen wird. Wir müssen stärker daran arbeiten, dass die Erfahrung dieser Festivals, die ja mit erheblichem Aufwand gefördert werden, auch anderen Menschen im Bundesland zugänglich werden.
Madeleine Bernstorff und Susannah Pollheim übernehmen als Geschäftsführerinnen in Nachfolge von Lars Henrik Gass am 1. Januar 2025 gemeinschaftlich die künstlerische beziehungsweise kaufmännische Leitung der Internationalen Kurzfilmtage.
Alle Informationen über die Internationalen Kurzfilmtage, die vom 29. April bis zum 4. Mai 2025 ihr 71. Festival feiern, unter kurzfilmtage.de