Theater als Erlebnis für alle Sinne
Mit „Meine geniale Freundin“ (Premiere 24. Januar) im Schauspielhaus Bochum nimmt Intendant Johan Simons das Publikum mit auf eine etwa sechsstündige Reise durch die Höhen und Tiefen einer ungewöhnlichen Freundschaft im Neapel der 1950er-Jahre. Ein Gespräch mit Produktionsdramaturg Moritz Hannemann über neue Blickwinkel und das Theatererlebnis als Ereignis.

Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Während der etwa sechsstündigen Aufführung von „Meine geniale Freundin“ nimmt das Publikum verschiedene Blickwinkel ein: Im Verlauf des Abends wechseln die Gäste ihre Plätze. Welchen Effekt erhoffen Sie sich davon, Herr Hannemann?
Unsere Inszenierung findet auf der großen Bühne des Schauspielhauses Bochum statt. Das Publikum wandert zwar nicht durch das ganze Theater, aber es nimmt im Laufe der Vorstellung sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum Platz und umgibt so die Spielfläche der Schauspielerinnen und Schauspieler. Das Besondere an der von Wolfgang Menardi entworfenen Bühne ist, dass das Publikum buchstäblich und leibhaftig die Umgebung der Figuren und der Handlung bildet. Es bildet gewissermaßen die Stadtlandschaft von Neapel, in der die Geschichte der Freundschaft von Lenu und Lila ihren Anfang nimmt und in der sie endet.

Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Passend zur neapolitanischen Saga von Elena Ferrante wird in der Pause ein italienischer Imbiss angeboten. Das Theatererlebnis wird mehr und mehr zum Ereignis, geht weit über das bloße Zuhören und Zuschauen hinaus. Sollte Theater auch andere Sinne ansprechen?
Theater ist eine Kunst für alle Sinne – für das Hören und Sehen, aber auch für das Tasten, den Geruch und den Geschmack. Und Theater ist immer körperlich. Auch das Publikum ist ja nicht nur geistig, sondern auch physisch anwesend. Auf die eine oder andere Weise, und vielleicht gar nicht so selten auf mehrere Weisen, bewirkt Kunst, dass wir anders wahrnehmen, als wir es sonst tun. Dass wir uns intensiv spüren, die Welt anders sehen, anders darüber denken. Dass Perspektiven und Dimensionen eröffnet werden, die wir ohne sie nur erahnen – oder vielleicht nicht einmal das. Immer wenn das passiert, wenn Kunst in die Sinne eingreift, ist Kunst ein Ereignis.

Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Schon in der Spielzeit 2023/24 hat Johan Simons Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“ als siebenstündigen Abend mit gemeinsamem Dinner inszeniert. Auch hier wanderte das Publikum durch das Theater, inklusive Kammerspiele, Werkstätten und Foyer. Das war spannend, aber einige sprachen auch von einem Kraftakt. Wie sieht es denn mit der Aufmerksamkeit des Publikums aus? Angeblich nimmt ja gerade bei jungen Menschen die Aufmerksamkeitsspanne immer mehr ab. Wie lässt sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer bei überlangen Inszenierungen aufrechterhalten?
Solch lange Theaterabende sind zweifellos eine Herausforderung, sowohl intellektuell als auch körperlich. Die lange Dauer ermöglicht dabei eine andere Art von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit und meine Erfahrung ist, dass die Aufmerksamkeit eher zu- als abnimmt. Zum Beispiel fällt es gar nicht so sehr ins Gewicht, mal einen Augenblick unaufmerksam zu sein und etwas zu verpassen, denn man hat genug Zeit, den Weg zurückzufinden. Gerade insofern man ein Stück weit aus dem Alltag heraustritt und ins Theater eintaucht, wird der Zeitraum des Theaters auch ein Lebensraum. Und da ist es nur logisch, dass auch gegessen werden muss, denn die Menschen leben zwar nicht nur vom Brot allein, aber ohne Essen geht es bekanntlich auch nicht.

Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Wer gibt den Wandel im Theater vor: das Publikum oder die Theatermacher?
Erst einmal denke ich, dass Theater und Publikum sich verändern, weil Gesellschaft und Leben sich verändern, nicht statisch sind. Dabei geben weder das Theater noch das Publikum den Takt vor. Außerdem gehören Theater und Publikum zusammen, das Publikum ist Teil des Theaters, ohne Publikum gäbe es gar kein Theater. Angesichts dessen ist Theater ein Ort, an dem Versuche unternommen werden können, mit dem Wandel – worin auch immer er im Einzelnen besteht – umzugehen, ihn durchzuspielen, über ihn nachzudenken, sowohl kritisch als auch konstruktiv. Und zwar sowohl vom Publikum als auch von denjenigen, die im Theater arbeiten. Im Theater sind wir alle zu Gast und begegnen uns.

Foto: Daniel Sadrowski
Moritz Hannemann studierte Theater- und Literaturwissenschaft und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am theaterwissenschaftlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Seit der Spielzeit 2024/25 ist er Dramaturg am Schauspielhaus Bochum.
Weitere Infos zur Inszenierung „Meine geniale Freundin“ und Termine auf den Seiten des Schauspielhauses Bochum.