Kunstmuseum Gelsenkirchen erschließt virtuelle Welten
Rollenwechsel im Kunstmuseum Gelsenkirchen: In einem bisher einzigartigen Pilotprojekt wechseln Museumsgäste virtuell die Seiten. Dank der Anwendung "Virtual Curator" gestalten sie ihren eigenen Ausstellungsraum mit Werken aus dem Depot des Hauses.
"Wir haben noch mehr", der überdimensionale Schriftzug an der Wand des Ausstellungsraums ist als ganz konkrete Einladung zur Entdeckungsreise zu verstehen. Ein vergleichsweise kleiner Bereich, lediglich durch weiße Markierungen auf dem Boden von der Dauerausstellung abgegrenzt, verweist die angehenden Kuratorinnen und Kuratoren in ihre räumlichen Grenzen. Und hier soll "meine" Gemäldegalerie Platz finden? Diese Frage drängt sich beim Anblick der Fläche, die bei dem einen oder der anderen zu Hause wohl ein einigermaßen großzügiger Essbereich einnimmt, zwangläufig auf. Doch kaum sitzt die VR-Brille, geschieht "Magisches": Eine Tür erscheint, dahinter ein großzügiger Raum, in dem bereits einige Kunstwerke hängen. Mit einem Klick per Controler auf ein digitalisiertes Gemälde der Gelsenkirchener Sammlung wähle ich ein Bild aus, per Handbewegung platziere ich das Kunstwerk zwischen den anderen an der Wand, schiebe beiseite, ordne, stelle neu zusammen – und versinke ganz in der Situation und der Aufgabe, während um mich herum der analoge Museumsbetrieb weiterläuft. Anfangs noch zögerlich, bewege ich mich immer sicherer durch den Raum, der ja im Augenblick nur für mich existiert. Obwohl die Originale, die ich hier gerade für meine Ausstellung in den Dialog bringen, ganz real im Keller des Museums schlummern.
Machen statt Schauen
Das ist das Besondere des Konzepts: Die virtuelle Erfahrung ist eng mit dem analogen Besuch verknüpft. Julia Höner, seit zwei Jahren Direktorin des Kunstmuseums, will so natürlich auch neue, vielleicht auch jüngere Zielgruppen ansprechen. In erster Linie aber ist es ihr wichtig, Möglichkeiten für neue Erfahrungen abseits des passiven Konsumierens der Kunst zu schaffen: "Es geht ja nicht ums reine Wände-Dekorieren. Wir wollen nah dran an die Idee eines Ausstellungsmachers. Man soll sich vielleicht auch überlegen, warum passt jetzt ‚Die Welle‘ von Ansgar Skriba gut zu einer luftigen Landschaft von Max Pechstein?" So beschäftigen sich die Menschen auf einer ganz anderen Ebene mit der Kunst. "Ich glaube, dass das auch nochmal eine andere Relevanz erzeugt", so Julia Höner. "Oder auch eine andere Nähe zu den Dingen. Die Dinge selbst an die Wand zu bringen, definiert quasi die Beziehung zum Museum neu. Dann geht man vielleicht auch nochmal mit einem anderen Blick durch die von den Museumsmachern gestalteten Ausstellungsräume und setzt sich anders mit der Szenografie einer Ausstellung auseinander."
Und ganz nebenbei entdecken die Besucherinnen und Besucher eben Werke, die aktuell im Depot warten und nicht "live" zu sehen sind. Kleine Einführungstexte im virtuellen Raum verraten mehr über diese Exponate. Eine Vielzahl von Gemälden von Picasso bis Kirchner und von Rembrandt bis Stankowski stehen zur Auswahl. Zunächst einmal sind es 30 Exponate, die digital im Virtual Curator hinterlegt wurden. Die Anwendung wächst aber mit ihrem Einsatz und den gesammelten Nutzer-Erfahrungen. Denkbar ist zum Beispiel, in Zukunft auch 3D-Skulpturen zu integrieren, In einer ersten Erweiterung ist schon ein Architekturmodus entstanden, mit dem Gäste Zwischenwände in den virtuellen Ausstellungsraum einfügen können.
Mit VR Brücken schlagen
Hinter der Entwicklung und Programmierung des Pilotprojekts steht die Gelsenkirchener Tech-Agentur mxr storytelling. Nach der ersten Idee und der Anfrage des Kunstmuseums hat das Expertenteam dank finanzieller Unterstützung des LWL-Museumsamtes für Westfalen innerhalb von knapp drei Monaten eine Anwendung konzipiert und programmiert. Die Agentur hat einschlägige Erfahrungen mit der Verknüpfung von Kultur und Digitalität, hier wurde zum Beispiel auch das erste Festival für virtuelle Realität in Deutschland, das "Places" in Gelsenkirchen, aus der Taufe gehoben. Der Anspruch: Die Anwendung muss technisch und inhaltlich niederschwellig sein, intuitiv bedienbar und mit Mehrwert. "Es geht nicht darum, Digitalität um der Digitalität willen zu machen, sondern sie da einzusetzen, wo es inhaltlich Sinn und einen Mehrwert ergibt", erklärt Simon Schlenke von mxr storytelling. "Hauptsache, wir haben was mit VR – darauf kommt es ja nicht an, sondern darauf, eine inhaltliche Brücke zu schlagen."
Und während sich die Digital Natives möglicherweise durch das spielerische Element des Virtual Curator fesseln und ins Haus ziehen lassen, ist es für die Generation der Digital Immigrants vielleicht umgekehrt: Ihnen bietet sich im Rahmen des Museumsbesuchs die Möglichkeit, Zugang zur Technologie zu finden. Alle Altersgruppen sollen ohne Erklärung sofort in die VR-Anwendung einsteigen können – ein großer Unterschied zu kommerziellen Anwendungen wie Spielen. Der Eintritt ins Kunstmuseum und die Nutzung des Angebots sind dazu noch kostenfrei.
Weitere digitale Angebote
Neben der Virtual Reality-Anwendung hat das Kunstmuseum Gelsenkirchen übrigens schon seit längerer Zeit weitere digitale Angebote, so zum Beispiel eine App, mit der man die Kunstwerke der Kinetik genauer unter die Lupe nehmen kann. Da erzählt dann der Schauspieler Peter Lohmeyer Hintergründe zu den Werken. Und auf der Website wird sukzessive die gesamte Sammlung online gestellt. Daraus können sich die Nutzerinnen und Nutzer ihre persönliche Sammlung zusammenstellen, nach eigenen Ideen. „Wir bauen mit der neuen VR-Brille auf bereits bestehende Digitalprojekte auf, die den Museumsbesuch sinnvoll komplementieren und noch spannender machen", schlägt Julia Höner den Bogen zum neuen Angebot.
Das Kunstmuseum Gelsenkirchen
2024 feierte das Kunstmuseum Gelsenkirchen den 40. Geburtstag seines Neubaus. Aus diesem Anlass wurde das Haus ausgeräumt, modernisiert und die Sammlung neu gehängt. Bereits seit den 1960er Jahren präsentiert die Stadt hier ihre gesammelten Schätze. Die grafische Sammlung umfasst Werke, die vom Aufbruch in die Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts über die europäischen Avantgarden der Nachkriegszeit bis zu internationalen Positionen der Gegenwart reichen. Zudem beherbergt das Haus eine bedeutende Sammlung der Kinetischen Kunst. Aktuell ist hier u. a. noch bis zum 2. März 2025 die Schau "interzone" der Videokünstlerin Alona Rodeh zu sehen.