16 KONZERTE 3 STÄDTE 11 AUßERGEWÖHNLICHE ORTE: Vom 7. bis 10. September bespielt das zweite New Colours Festival das nördliche Ruhrgebiet und zeigt an zahlreichen besonderen Spielorten die ganze Vielfalt des europäischen Jazz der Gegenwart.
Kann man sich in Zeiten globaler Krisen einfach so von Musik beglücken lassen? Die Philosophie dieses noch jungen Festivals bejaht diese Frage. Für eine schöpferische Gestaltung der Zukunft gilt es, ausgetretene Pfade zu verlassen und sich auf Neues einzulassen. Die Kunst -also auch die Musik -ist dafür das ausdrucksstärkste Mittel. Sie öffnet Sinne und gibt Impulse zum kreativen Denken. Die Premiere unseres Festivals im krisengebeutelten Gelsenkirchen wurde vom heimischen und auswärtigen Publikum sowie von der lokalen, nationalen und internationalen Presse begeistert aufgenommen. Nach einem solchen Debut ist die zweite Ausgabe im Jahr 2023 eine besondere Herausforderung, der wir uns gerne stellen. Mit16Konzerten an elf Spielstätten, von denen einige neu dazugekommen sind.
ARCHITEKTONISCHE KLEINODE WARTEN AUF IHRE ERKUNDUNG
Viele Klischees vom Ruhrgebiet können schon an der nächsten Straßenecke über den Haufen geworfen werden. Das Schloss Horst, eine der bedeutendsten Renaissance-Schlossanlagen nördlich der Alpen steht in Gelsenkirchen. Ein anderer Spielort ist die Heilig Kreuz Kirche aus dem Jahr 1927 mit seiner einzigartigen expressionistischen Fassade. Viele industrielle Bauten verkörpern den Geist des Aufbruchs der Industrialisierung. Hierzu gehört zum Beispiel als neuer Spielort die KAUE Gelsenkirchen. Der Schauburg Filmpalast ist einer der letzten prunkvollen Kinos Deutschlands und mit seinem dekadent-stylischen Ambiente genau das Richtige für Live-Jazz. Die Stadt Marl am äußersten Nordrand des Ruhrgebiets verfügt über einen Konzertsaal, der vom Stararchitekten Hans Scharoun nach dem Vorbild der Berliner Philharmonie erdacht wurde. Last but noch least: Als „höchste Konzertbühne im Ruhrgebiet“ steht auch bei der zweiten Festivalausgabe wieder der Nordsternturm, ein ehemaliger Förderturm bereit. Livemusik ist beim New Colours Festivalkein Selbstzweck. In diesem Sinne laden die vier Festivaltage zur lebendigen Erkundungsreise in die kulturelle und historische Diversität des nördlichen Ruhrgebiets ein.
JAZZ IST GELEBTE TOLERANZ
Im Jazz funktioniert vieles besser als in der Weltpolitik: Kulturen und Nationalitäten schöpfen leichtfüßig aus dem Nährboden einer gelebten Toleranz. So klingt auch das Trio des franko-vietnamesischen Weltklasse-Gitarristen Nguyen Lé. Ebenso lässt der iranische Perkussionsspieler Afra Mussawisade mit zwei Musikern aus NRW eine Welt erklingen, die sich über kulturelle Grenzen hinaus ein facettenreiches Universum schafft.
Der Pianist Joachim Kühn wurde in diesem Jahr für sein Lebenswerk mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet. Sein Soloauftritt gehörte beim New Colours Festival 2022zu den Höhepunkten. Der Schlagzeuger Daniel Humair spielte über viele Jahrzehnte im Trio von Joachim Kühn. Beim zweiten New Colours Festival bereichert er das Projekt des luxemburgischen Ausnahmesaxofonisten Maxime Bender.
Jazz hat mit Emanzipation zu tun. Das kann auch bedeuten, bestimmte Instrumente aus ihren bisherigen konventionellen Rollen heraus zu lösen. Kompromissloser als beim Österreicher Matthias Loibner geht es kaum, dem es die uralte -zugleich raffiniert erdachte -Drehleier angetan hat. Wenn er mit der Kurbel die rotierende Scheibe auf Touren bringt, wird das Instrument aus dem Mittelalter in die musikalische Gegenwart katapultiert. Damit kann wohl nur einer mithalten: der Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli, einer der universellsten Vertreter seiner Zunft. Dieses Konzert erhebt sich nicht nur über musikalische Konventionen, sondern findet auch hoch über den Dächern des Ruhrgebiets auf dem Nordsternturm statt.
NETWORKING IN DER EUROPÄISCHEN LIVE-SZENE
Ein Jazzfestival programmieren hat mit Networking und ständiger Erkundung der aktuellen Live-Szene zu tun. Die künstlerische Leitung wurde für die aktuelle Festivalausgabe unter anderem in den Benelux-Ländern fündig: Etwa bei der Brüsseler Band „Dishwasher“, die auf jede Frage, ob das Gehörte eher Jazz, Hiphop oder Heavy Metal ist, am liebsten mit noch mehr Überwältigungskraft antwortet. Die luxemburgische Musikszene klingt wie dieses kleine Land: freundlich und familiär, aber zugleich einflussreich und weltoffen. Keine Ausnahme macht hier die Band „KLEIN“ des Pianisten, Keyboarders und Schlagzeugers Jerome Klein. Mit Paul Belardi am Vibraphon verfügt er über einen Seelenverwandten, um aus zahllosen Einflüssen von Jazz, Fusion bis zu Electronic Rockund Hiphop zu schöpfen.
Klavierfans werden beim New Colours Festival durch zwei hochvirtuose Highend-Triosreich bedient. Die Formation des Spaniers Daniel Garcia schöpft aus dem Erbe des Flamenco eine hochkarätige Improvisationskunst auf Weltklasse-Niveau und der kubanische Tastenmagier Ramón Valle, der in Marls Scharoun-Aula mit seinem Trio ein wahres Feuerwerk der Leidenschaft abbrennen wird. Aber es laden auch ruhigere Klanglandschaften zum Eintauchen ein. Der Trompeter Marius Gjersø gehört zu den neuen, aktuellen Vertretern der einzigartigen norwegischen Jazzszene. Sein stimmungsvoller, weit verzweigter Kammer-Jazz entführt auf Anhieb in die Weiten der nordischen Landschaften.
UNGEBREMSTEKREATIVITÄT
Auf eines ist in der Jazzwelt von heute Verlass und das New Colours-Festival liefert vom 7. bis 10. September genug Belege dafür. Die Kreativität zahlloser Musiker*innen und Bands ist auch in schwierigen Zeiten nicht zu bremsen. Aufhorchen lässt die Bassistin Lisa Hoppe, die in ihrem deutsch-israelisch-schweizerischen Projekt „YSOP“ einen hohen Grad an intelligent umgesetzter Empfindsamkeit entfaltet.
Improvisieren gehört zur musikalischen Gegenwart, aber ist musikgeschichtlich eine uralte Sache. Sie fand und findet ausgiebig auf Kirchenorgeln statt. Der Brite Kit Downes lotet auf der Schuke-Orgel in der Gelsenkirchener Matthäuskirche neue Wege für die musikalische Zukunft aus. Seine Orgelimprovisationen sind zwar experimentell, aber zugleich ausgesprochen lyrisch, meditativ vor allem aber legendär.
Die Musikwelt hat mehr zu bieten als den Viervierteltakt der Unterhaltungsindustrie. Umso wertvoller ist, schon junge Menschen für die ganze Freiheit, die die Musik bereithält, zu sensibilisieren. Dieser Aufgabe nimmt sich beim New Colours Festival der österreichische Multiinstrumentalist Christoph Pepe Auer auf leichtfüßige Weise bei zwei Kinderkonzerten zusammen mit dem Gitarristen Manfred „Speedy“ Temmelan.
„Destination Future Jazz“ könnte ein passendes Motto für dieses Festival sein –dieser Slogan fiel aber schon vor 25 Jahren einer deutschen Kultband ein, die daraus den Bandnamen „De-Phazz“ kreierte. Der Name war Programm, mit dem die deutsche Band die Clubkultur zu erobern, in der die Türen für Jazzelemente seitdem weit offenstehen. „De-Phazz“ spielen zum Finale des New Colours-Festival in ihrer Lieblingsbesetzung, zu der auch die Sängerin Pat Appleton und der Sänger Karl Frierson mit ihren souligen Stimmengehören.