Zeitreise "inne Kolonie"

Wie war es damals, das Leben in der "Kolonie"? In einem Haus, auf zwei Etagen – und dennoch auf engem Raum mit der gesamten, großen Familie? In Kamp-Lintfort tauchen Besucher ein in die Welt der Bergmannsfamilien Anfang des 20. Jahrhunderts. Das "Haus des Bergmanns" lädt ein zur Zeitreise.

Ein zweigeschossiges Doppelhaus reiht sich ans nächste in der Altsiedlung Friedrich Heinrich in Kamp-Lintfort. Leicht gedrungen trotz ihrer zwei Geschosse, mit rot gedeckten Dächern. 2.200 dieser Häuser standen nach 1945 hier in der Kolonie, um die 6.000 Menschen lebten hier. Mit rund 76 Hektar Fläche ist sie die größte Werkssiedlung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets und Teil der Route Industriekultur. Heute sind die meisten Häuser an Privatleute verkauft. Die Fassaden dürfen nicht verändert werden, innen aber erinnert nichts mehr an die Verhältnisse von einst – mit Ausnahme der Doppelhaushälfte an der Ebertstraße 88. Im Inneren öffnet sich die kleine Welt einer Bergmannsfamilie der 1930er Jahre. Der Verein Fördergemeinschaft für Bergmannstradition hat das Haus mit viele Liebe zum Detail und zahlreichen Original-Exponaten eingerichtet. Die dazugehörige Ausstellung wurde in den vergangenen eineinhalb Jahren neu konzipiert und erst vor wenigen Wochen eröffnet.

Historische Fotos und Hörstationen

Wie im Familienalbum zeigt die Schau in einer der beiden Haushälften Momente aus dem Arbeiterleben zwischen 1912 und den 1980er Jahren: Mädchen in selbstgenähten Kittelschürzen, Jungen in adretten Matrosenanzügen, patente Frauen, Vereine beim Sport. An Hörstationen teilen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen ihre Erinnerungen an Kindheit, Alltag und ihre Siedlung. Wissenschaftlich unterfüttert entsteht so ein Bild der sozialen Verhältnisse anno dazumal. "Man sieht hier: Das Leben war nicht schön damals, es war von Armut geprägt. Aber man hat sich geholfen, indem man zusammenstand. Bergleute sind ja sowieso in dieser Hinsicht besonders. Da muss sich jeder auf den anderen verlassen können. Und so war das hier in der Kolonie auch. Man hat gemeinsam geschlachtet. Man hat das, was der Garten hergab, geteilt. Es waren im Vergleich zu heute ärmlichere, aber vielleicht sozial stabilere Verhältnisse. Das zeigt diese Ausstellung", fasst Norbert Ballhaus, Vorsitzender der Fördergemeinschaft, zusammen.

Küche und Kohlenkeller

Viele "Kolonisten" haben die Ausstellungsmacher befragt, zahlreiche Familien haben O-Töne oder auch Ausstellungsstücke beigetragen. Gerade die nach ihren Erinnerungen und Aufzeichnungen eingerichteten Räume sind es, die die Besucherinnen und Besucher in vergangene Zeiten katapultieren. In der Küche sieht es aus, als würde gleich das Essen auf den Tisch kommen, gekocht auf dem Küppersbusch-Kohleherd, mit Zutaten aus dem Bergmannsgarten hinter dem Haus. Auf dem Boden die Markierungen für die Familienmitglieder, die sich dort in der Regel tummelten: "Hier hielten sich schonmal neun Personen auf", erklärt Ballhaus. "Denn die Küche war das Zentrum, des Hauses, hier spielte sich das Leben ab. Und es war der einzige Raum, der immer geheizt war." Um die Ecke der winzige Raum mit dem Plumpsklo – ein Highlight vor allem für Schulklassen, die heute hierher kommen.

Und natürlich das Allerheiligste: die Gute Stube. Hier saß man zu besonderen Gelegenheiten beisammen, klönte, arbeitete, feierte Geburtstage oder Weihnachten. "Und wenn man sich fragt: Was haben die Leute gemacht, ohne Fernsehen und Computer, dann sieht man hier: Mama hat genäht, vornehmlich für die Familie, aber auch kleinere Aufträge. Denn das gab ein wenig Geld. Und abends hat man auch mal die Quetschkommode herausgeholt und sich damit amüsiert."

Authentisch ist auch der Keller eingerichtet: Kohle und Mutterklötzchen sorgten für Energie im Haus, Eingemachtes für den Energiehaushalt der Bewohnerinne und Bewohner. Einzige Ausnahme: Den Kriechkeller hat der Verein zu einer nachgebildeten Untertage-Strecke ausgebaut – der einzige Fake im "Haus des Bergmanns".

Hintergrund: Zeche Friedrich Heinrich

Die Doppelschachtanlage Friedrich Heinrich in Kamp-Lintfort nahm 1912 die Förderung auf. Bereits 1909 wurde die Zechenkolonie gebaut. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Siedlung weitgehend von Zerstörungen verschont und ist heute Teil der Route Industriekultur. Das "Haus des Bergmanns" gehört zu dieser Kolonie und wurde 1913 fertiggestellt.

2012 war Schicht im Schacht auf der Zeche Friedrich Heinrich. Ein Teil des Geländes wurde im Rahmen der Landesgartenschau 2020 zum "Zechenpark" umgestaltet. Dort betreut der Verein, die Fördergemeinschaft für Bergmannstradition, auch den begehbaren Förderturm und den Lehrstollen.

Das Haus des Bergmanns ist immer sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet und für Führungen jederzeit nach Anfrage buchbar. Die Neugestaltung erfolgte im Auftrag der Stadt Kamp-Lintfort mit Mitteln des LVR.