Antje Deistler über neue Bücher, junge Autor*innen und frische Ruhrgebietsbilder

Im September rollt die Metropole Ruhr der Literatur den roten Teppich aus: Der Literaturpreis Ruhr wird verliehen. Vier aktuelle Bücher hat die Jury für den Hauptpreis nominiert. Kir sprach mit Antje Deistler, Leiterin des Literaturbüro Ruhr, über die aktuelle Shortlist, das Ruhrgebiet im Buch und den literarischen Nachwuchs.

Frau Deistler, die Jury des Literaturpreis Ruhr hat vier Bücher auf die Shortlist 2024 für den mit 15.000 Euro dotierten Hauptpreis des Literaturpreises Ruhr gesetzt: "No Regrets" von Dietlind Falk, "Und die Welt, sie fliegt hoch" von Sarah Jäger, "Vatermal" von Necati Öziri und "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne" von Sina Scherzant. Was zeichnet die Shortlist aus?

„Die Shortlist ist diesmal auffallend jung. Alle vier Autor*innen sind noch nicht lange im literarischen Geschäft, zwei der vier Titel sind literarische Debüts. Sämtliche Bücher drehen sich um junge Menschen, drei davon würde ich als klassische, aber auch in Form und Stil sehr unterschiedliche Coming-of-Age-Geschichten bezeichnen. Wobei es sicher keine Absicht der Jury war – so viel kann ich aus den streng vertraulichen Sitzungen verraten –, die Shortlist unter ein gemeinsames Thema oder Motto zu stellen! Ausschlaggebend war vor allem die literarische Qualität der Bücher.“

Das Literaturbüro Ruhr betreut den Literaturpreis Ruhr, den der Regionalverband Ruhr seit 1986 verleiht, ja schon von Beginn an. Wie hat sich das Bild des Ruhrgebiets in der Literatur denn in den vergangenen Jahren gewandelt?

"Das Thema Arbeit steht anders als früher nicht mehr unbedingt im Vordergrund. Und unter den Autor*innen werden migrantische Stimmen immer wichtiger, die dem Bild des Ruhrgebiets neue Facetten hinzufügen – wie die syrische Lyrikerin Lina Atfah, die ihre neue Heimat Herne so poetisch beschreibt wie sonst niemand und für ihre Gedichte 2023 den Literaturpreis Ruhr bekam.

Wenn man sich die beim Literaturpreis Ruhr nominierten und ausgezeichneten Bücher der vergangenen Jahre ansieht, verbindet die Texte vor allem eins: Ihre Themen sind überall relevant, nicht nur hier. Viele dieser herausragenden literarischen Werke haben einen Ruhrgebietsbezug, Leserinnen und Leser von hier erkennen ihre Stadt, ihre Gegend, ihre Sprache, die Mentalität. Aber so geht es eben auch vielen anderen Lesenden überall in Deutschland und darüber hinaus: "Nordstadt" von Annika Büsing (Literaturpreis Ruhr 2022) z. B. wird hier bei uns als klares Ruhrgebietsbuch gelesen, aber in Hamburg, Stuttgart und Berlin findet man sich und seine Welt darin ebenso wieder. Denn auch außerhalb des Ruhrgebiets gibt es vernachlässigte Stadtteile, auch dort könnte die ungewöhnliche Liebesgeschichte spielen. "Identitti" von Mithu Sanyal (Literaturpreis Ruhr 2021) ist ein internationaler Erfolg. Das Buch spielt im Ruhrgebiet und NRW, seine Themen sind aber allgemeingültig und überall aktuell. Dasselbe gilt für nominierte Titel wie "Was dann nachher so schön fliegt" von Hilmar Klute (Shortlist 2020), "Nach vorn, nach Süden" von Sarah Jäger (Shortlist 2021) oder auch "Der Markisenmann" von Jan Weiler (Shortlist 2022). Also: Hohes Identifikationsangebot für Hiesige, gleichzeitig große Anschlussfähigkeit auch anderswo."

Der Literaturpreis Ruhr ist ja auch ein Spiegel der AutorInnen-Szene der Region – wie ist es hier mit dem literarischen Nachwuchs bestellt?

"Siehe Antwort 1! Allein die Tatsache, dass die Essener Jugendbuchautorin Sarah Jäger, die erst 2020 auf der literarischen Bildfläche erschien, schon die älteste auf der Liste ist, zeigt doch, wie jung und lebendig die Szene ist. Auch in der Kategorie Förderpreis demonstriert der Literaturpreis Ruhr jedes Jahr, dass wir uns im Ruhrgebiet keine Sorgen um den literarischen Nachwuchs machen müssen. Das kreative Potenzial ist auf jeden Fall da. Allerdings braucht es weitere Förderung wie Veröffentlichungs- und Auftrittsmöglichkeiten, und zwar zu vernünftigen Honoraren, damit neue Talente auch weiterschreiben und von ihrer Kunst leben können. Wenn bei der Kulturförderung gespart wird, wie derzeit zu befürchten ist, sind Newcomer grundsätzlich die Leidtragenden. Auch und vor allem in der Literatur."

Über den Literaturpreis Ruhr

Der Literaturpreis Ruhr ist die wichtigste ideelle und materielle Auszeichnung für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im Ruhrgebiet leben, sowie für Autorinnen und Autoren von außerhalb, die über die Region schreiben. Er wird seit 1986 jährlich vom Regionalverband Ruhr (RVR) vergeben und vom Literaturbüro Ruhr organisatorisch und konzeptionell betreut.

Für den Hauptpreis kamen in diesem Jahr herausragende Titel aus dem Ruhrgebiet und über das Ruhrgebiet in Frage, die im Zeitraum vom 1. Mai 2023 bis 30. April 2024 in einem Verlag oder per Selfpublishing erschienen sind. 56 literarische Werke aus unterschiedlichen Genres standen auf der Leseliste der Jury.

Wer den Hauptpreis gewinnt, wird während der Verleihungsgala am 11. September 2024 auf Schloss Horst in Gelsenkirchen bekannt gegeben.

Aktuelle Informationen zur Shortlist des Literaturpreises Ruhr stehen hier.