Interview Jens Balzer

Herr Balzer, Sie nennen die Diskussion um die kulturelle Aneignung eine „angeeignete Debatte“? Warum?

Es ist die Aneignung einer Debatte aus den USA, wo seit den 1980er Jahren über Cultural Appropriation diskutiert wird. Ausgehend von der HipHop-Kultur jener Zeit, als schwarze Musikerinnen u d Musiker feststellte, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft der USA sich mehrheitlich und eigentlich seit Jahrzehnten auf die schwarze Kultur bezieht, sie sich aneignet und man kann auch sagen ausbeutet. Eric Clapton ist der König des Blues, Benny Goodmann der König des Swing, während die schwarzen Pioniere in der Geschichtsschreibung fast verschwunden waren.

Es wurde nach der Zerschlagung der Black Panther-Bewegung versucht, so etwas wie die afroamerikanische Kulturtradition zu rekonstruieren: Wir sind stolz auf unsere Kultur und wollen unsere Pioniere feiern. Und bei den HipHoppern kam hinzu, dass man, als man sampeln konnte, in die jüngere Generation auch die Musik der eigenen Soul-Künstler wieder einspeisen konnte. Da ging es um die Wiederherstellung einer eigenen Kultur, die aufgesogen worden war, aber als einheitliche Traditionslinie gar nicht mehr kenntlich war.

Das wurde aber gleich auch schon widersprüchlich diskutiert. Auch damals gab es schon Stimmen, die dem entgegenhielten, es sei gerade die Stärke der Kultur des „schwarzen Atlantik“, dass sie durch eine endlose Verkettung, Vernetzung und Transformation entstanden ist.

Ist kulturelle Entwicklung ohne Aneignung überhaupt denkbar?

Das ist natürlich nicht denkbar. Man findet aber in der Debatte zwei widerstreitende Impulse.
Der eine: Natürlich ist Kultur ohne Aneignung nicht denkbar. Schon der Jazz als klassische afroamerikanische Kultur wäre so nie entstanden, wenn nicht schwarze Musiker sich ein von einem weißen Franzosen geschaffenes Musikinstrument, nämlich das Saxophon angeeignet hätten. Und man wird nie so etwas wie eine ursprüngliche Kultur ohne äußere Einflüsse finden.
Auf der anderen Seite findet sich aber genauso der berechtigte Impuls zu sagen: Natürlich ist eine weiße Kultur falsch, die sich eine schwarze Kultur aneignet und dabei oft sogar noch verhöhnt – wie beim Blackfacing – oder ihr die Position des Primitiven, heute eher: des Indigenen zuweist, um dann noch zu sagen, erst in dem Moment, wo wir Weißen uns das angeeignet haben, gelangte das auf die veredelte Stufe der Kultur.

Also, auch wenn man sagt, ohne Aneignung geht es nicht, muss man trotzdem anerkennen, dass es Formen gibt, die problematisch, rassistisch oder suprematistisch sind.

Hat sich die Debatte verändert?

Es ist vielleicht alles gesagt, aber noch nicht von allen. Und ich habe das Gefühl, das jenseits dieser Aufgeregtheit im Kulturbetrieb ziemlich viel passiert ist. Ich habe auf diversen Podien gesessen und erfreulich sachlich diskutiert - anders als im Netz. Ich war beispielsweise bei Karl May Gesellschaft, und da waren auch Native Americans dabei. Und ich finde es ganz positiv, wenn man dabei zu dem Ergebnis kommt, dass man früher Dinge einfach so oder so gemacht hätte, und heute muss man das mal reflektieren.

Aber auf der anderen Seite gibt es diese Awareness-Teams, die auf Festivals sitzen und Strichlisten führen, darüber was gemacht werden darf und was nicht. Das führte dann dazu, dass die Seniorengruppe, die bei der Bundesgartenschau mit Kimonos auftreten wollte, plötzlich ins Schlaglicht geriet. Ich finde, da muss man auch wieder raus.

Müssen wir also weiter darüber reden?

Wir müssen darüber reden, weil es diese Debatte gibt, und weil sie von verschiedenen Seiten zum Gegenstand von Kulturkämpfen gemacht wird. Wir haben einerseits eine hypersensibilisierte Linke, die sehr empfindlich ist, was Aneignung angeht, ohne darüber hinreichend zu reflektieren, wie auf diese Weise wieder Identitätskonzepte durch die Hintertür zurückkehren, die wir eigentlich überwunden zu haben glaubten.
Auf der anderen Seite hat man eine konservative Rechte, die jeden noch so jkleinen Fall aufblkäst, als ob das Abendland unterginge.
Ich stelle in meinem Buch „Ethik der Appropriation“ die Frage, ob nicht beide Seiten in bestimmten Punkten recht haben und wie man dazwischen vermitteln könnte.

Abgesehen von dieser Debattenlage finde ich es aber auch kulturhistorisch ganz spannend zu schauen, wer hat wann was von wem entlehnt. Die deutsche Pop-Geschichte lässt sich beispielsweise nicht erzählen ohne die Aneignung von Klischees. Denn gerade deutscher Pop wollte immer etwas anderes sein als „deutsch“.