Marcus Lobbes: Erst die Dramaturgie, dann die KI

Linz, Tallin, Karlsruhe, Hongkong, Liège – Marcus Lobbes ist ein gefragter Gesprächspartner, wenn es um innovative Formen des Theaters geht. Seit ihrer Gründung im Jahr 2019 leitet er die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund. Am 19. September ist er bei der Kulturkonferenz Ruhr zu Gast. Ein paar Fragen vorab.

Herr Lobbes, sie haben einmal gesagt „Man hat schon früher im Theater das Licht nur angemacht, wenn man es gebraucht hat“. Wann braucht das Theater KI?

Das ist eine schwierige Frage, wenn sie von der Technik ausgeht. Aber wir sind ja Teil eines Theaters und gehen von der Dramaturgie aus, also von der Frage: „Ich möchte etwas Bestimmtes machen, welche Technologie brauche ich dafür?“. Dann kommt man vielleicht an der ein oder anderen Stelle dazu, dass man KI braucht.

Prominentestes Beispiel bei uns war das Umrechnen von verschiedenen geografischen und körperbezogenen Daten des Publikums, um eine Partitur während eines Konzerts umzuschreiben und so ein neues Musikstück entstehen zu lassen. Für solch einen kollaborativen Aspekt, bei dem das Publikum mit der Bühne interagiert, kann als Zwischenfunktion eine KI sehr spannend sein.

Käme ich auf solche Ideen, wenn KI nicht gerade im Raum stünde?

Dieses Projekt ist vor dem KI-Boom entstanden, und KI-Forschungsprojekte hatten wir schon vor fünf Jahren. Aber jetzt ist KI halt „da“!  
Wir hatten auch schon ein Projekt, bei dem vierzigtausend Fotos des Theaters Dortmund der letzten Jahrzehnte ausgelesen und daraus 3D-Raumbilder generiert wurden. Das geht heute im Netz KI-basiert per Knopfdruck; das Projekt ist aber vier Jahre alt. Also, die Ideen sind da. Manchmal hinkt die Technik hinterher, und manchmal kommt sie dann einfach.
Aber, und so viel Realismus muss bleiben: KI ist heute auch ein Buzz-Word für die Industrie. Was als KI verkauft wird, sind die gleichen Smartphones von früher mit einem anderen Stempel drauf.

Wie lässt sich vermeiden, dass auch das Theater Teil einer Buzz-Wort-Produktion und Überbietungsästhetik wird?

Zum einen wird das durch die Förderung der Theater schon ausreichend vermieden, die es gar nicht möglich macht, so zu arbeiten.
Aber ernsthaft: Theater hat auch schon immer überwältigt, wenn es nötig war. Eine versenkbare Treppe im antiken Theater oder die Bühnentechnik des Renaissance-Theaters, die Verwandlung in 30 Sekunden statt 30 Minuten möglich gemacht hat, hatten auch einen Überwältigungsaspekt. Aber das wirkte sich auch aus auf die Dramaturgie, denn man konnte jetzt schneller erzählen.
Für mich wäre die entscheidende Frage: Ist die Abgrenzung zur Unterhaltungsindustrie gegeben, ja oder nein?

 

Es gibt die Akademie für Theater und Digitalität jetzt fünf Jahre. Was wurde in dieser Zeit erreicht?

Wir sind 2019 von Stadt, Land, Bund und Europa in einer tollen gemeinschaftlichen Aktion gegründet worden. Da war Digitalität noch ein Nischenprojekt. Gestartet sind wir mit Ausbildung, Fort- und Weiterbildung, mit Gründung eines Studiengangs und künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung.
Corona hat dann zwar die Theaterlandschaft stillgelegt, hat aber auch genau in dem Bereich einen großen Schub ausgelöst. Wir mussten schauen, wie wir anders produzieren. Wie wir in Kontakt treten können, welche digitalen Formate wir neu entwickeln. Und erst durch die Pandemie wurde klar, es gibt niemanden auf der Welt – und das ist bis heute so – der in so einem großen Maße die Szene kennt und beraten und vernetzen kann wie wir. Plötzlich wurden wir immer mehr angefragt und das macht, was meine persönliche Arbeit angeht, mittlerweile bestimmt mehr als fünfzig Prozent aus.
Gemeinsam mit dem Theater Augsburg und anfangs fünfzehn weiteren Theatern haben wir zum Beispiel das Theaternetzwerk.digital gegründet. Wir sind mit dem Deutschen Bühnenverein in Kontakt getreten. Da war man am Anfang eher skeptisch und ist mittlerweile einer der engsten Partner.
Aus drei europäischen Großprojekten sind zehn internationale Zusammenarbeiten entstanden.
Wir haben Beratungen von Strukturen vorgenommen und sind von Landesregierungen angefragt worden. Im Januar hat erst die Landesregierung NRW gefragt, wie können Kunst und KI mit einem Förderprogramm ertüchtigt werden? 
Das sind alles Dinge, bei denen wir merken, wir sind „die“ Anlaufstelle.

Darf man sich die internationale Szene des digitalen Theaters mit Dortmund als Leuchtturm im Zentrum vorstellen?

Nein, eher ein bisschen wie das Ruhrgebiet: als „polyzentrische Metropole“. Denn letztlich liegt es an den Menschen. Wir hatten dieses Jahr den Slogan: „Die Zukunft des Digitalen ist analog“. Das heißt, wir müssen das Wissen zu den Menschen bringen. Es ist ganz entscheidend, dass die sich begegnen, sich austauschen, nicht das Wissen für sich behalten. Nicht: Premiere spielen und weg.
Alles, was wir machen, wird daher dokumentiert, hinterlegt, ist gemeinfrei und rechtefrei. Man kann das nutzen, weltweit. Das ist auch ein Ertüchtigungsmoment.

Inwiefern profitiert, regional gedacht, das Ruhrgebiet von ihrer Arbeit?

Die erste internationale Fellowship ist nach fünf Jahren gerade ausgelaufen. Leute aus Mailand, Barcelona, Chicago sind hier nach Dortmund gezogen und wollen gar nicht wieder weg aus dem Ruhrgebiet. Das ist sehr beruhigend. Und es spricht sich mittlerweile auch in Berlin rum, wie fancy das ist, was wir hier machen – weil wir tolle Orte haben, weil die Menschen hier tatsächlich sehr zugänglich sind, weil das Personal der Akademie hervorragend ist, weil unsere Arbeit eine große Exzellenz hat. Und weil man sieht, dass hier Dinge einfach gemacht werden und nicht – wir sind parteiübergreifend gegründet worden – zwischen politischen Interessen zerrieben werden.